06.02.17 08:20
Stichwörter: Eder, Euch, I, Ihr, Ihrzen, Jer, zweite Person plural höfliche Anrede
Gab es im Norwegischen eine höfliche Anrede in der zweiten Person Plural, also Ihr/Euch und so wie Nynorsk De – Dykk – Dykkar?

06.02.17 13:45, Mestermann no
Ja, aber vor sehr langer Zeit, bis zum 18. – Mitte des 19. Jahrhunderts, in moderner Literatur nur als gewollt
archaisierendes Stilmittel: I und Eder oder auch "Jer" ("Eder" und "Jer" sind Abhängigkeitsformen von I):

Beispiel:
I sitter nu, kong Haakon, i riket, og saa siger I og alle Eders venner, at I er arving til Norge (Bugge, Haakon
Haakonsson)
I er fri og kan gjøre som I vil (Fosnes Hansen, Falketårnet)
Akk, brødre, I lot jer tukte i kne (Øverland, Sml. Dikt)
Venner, venner! Vi vil bare hjælpe jer! (Bjørnson, Sml. Digte)
Jeg hilser jer, skrikende fugler (Nils Collett Vogt, Sml. Digte)

Das moderne Pronomen 2.p.pl. "dere" ist herabgeleitet von "eder"/"jer".

06.02.17 14:42
Vielen Dank vorläufig, Mestermann. Dieses I/Eder wirkt auf mich etwas archaischer als das deutsche Ihrzen. Siehe zum Beispiel den Dialog im Märchenfilm "König Drosselbart":
https://www.youtube.com/watch?v=S2_inxY1UJw (die ersten zwei Minuten reichen).

Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt hab
An Eurer Stelle würd ich weichen
Das ist mir Euer Anblick wert
Sucht Ihr den Esel?
Was bildet Ihr Euch ein?
Mir deucht, er würde Euch schon fehlen
aha – kein Esel seid Ihr

Würde hier I/Eder so ähnlich wirken wie Ihr/Euch, oder viel archaischer? Wie könnte man es dann ausdrücken?

06.02.17 15:13, Mestermann no
Schwierig genau zu beurteilen, aber da die deutsche Belletristik weiter zurückgeht als die norwegische, und
zudem auch umfangreicher ist, tritt das Ihrzen in viel mehr Werken auf, und wohl auch später als I/Eder in der
norwegischen Literatur.

Entscheidend für die Entwicklung weg vom "I/Eder" ist dass "I/Eder" bei P.Chr. Asbjørnsen und J. Moe in ihren
Volksmärchensammlungen nicht vorkommt. Dort sagen alle "du" zu einander, sogar die Könige und Prinzessinen
der Märchen werden mit "du" angeredet. Asbjørnsen und Moe versuchten ganz bewusst einen norwegischen
Sprachton für die Märchen zu gestalten, führten eine Menge sondernorwegische Begriffe und Wendungen in ihre
Sprache ein, vermiedeten bewusst dänische Bezeichnungen und Konstruktionen. Daher wird normalerweise
"Norske Folke- og Huldreeventyr" als das erste Buch gerechnet, worin eine norwegische Schriftsprache
wesentlich unterschiedlich vom Dänischen erscheint. "I" und "eder/jer" wirkten und wirken eher dänisch.

Ich würde also sagen, dass "I/Eder" viel archaischer wirkt als das deutsche Ihr/Euch. Für ein Märchenton
benutzt man im Norwegischen sowieso nur "du/deg", vgl. Asbjørnsen und Moe.

06.02.17 16:32
Zudem kommt natürlich dass die Formen Ihr und Euch im Deutschen noch vorhanden sind, wenn auch nicht
mehr als höfliche Anrede an eine Person, während I und eder auf Norwegisch ganz verschwunden sind.

06.02.17 17:12
Dann wäre also der obige Dialog mit Formen von "du" zu übersetzen.
Nochmals danke.