12.05.12 18:12, Wer_ner
Hallo, liebe Forums-Mitmenschen!

(Dies ist meine erste Wortmeldung in diesem Forum, es scheint keine thematische Gliederung zu geben. Alles läuft einfach chronologisch ab ? Deshalb stelle ich einfach hier meine Frage)

Ich habe hier im Forum gerade einen etwa 2 Jahre alten, sehr interessanten Thread (also gibts das doch ?) zur Du-Sie-Frage im Deutschen im Vergleich zum Norwegischen gelesen.

Wie sollte man das 'du' des Norwegischen (Schwedischen) in der aktuellen (Krimi-)Literatur eigentlich ins Deutsche übersetzen ? Gerade auch in den vielen aktuellen Filmen ist das ja oft (für mich) die Frage.

Ich meine, meine sollte viel häufiger bei der Übersetzung das deutsche 'Du' verwenden, um die Situation und/oder Beziehung treffender zu beschreiben. Genau das wird fast nie gemacht; im Englischen ist die Sache glaube ich, deutlich anders.

Was meint Ihr dazu ? Danke für Antworten.
Werner

12.05.12 18:46
Ich meine, dass das deutsche Du die Situation und/oder Beziehung eben oft nicht treffender beschreibt als das Sie. Würdest du außerhalb des Internets einen fremden Menschen dutzen? Außerhalb von Studentenkreisen oder bestimmten Berufsgruppen passiert das hier einfach nicht. Einen Verkäufer, einen Busfahrer, eine Sprechstundenhilfe, einen Kunden, einen Vertreter - alle diese Menschen würde ich selbstverständlich siezen. Die Norweger tun das eher nicht, sondern sagen "du". Wenn man das aber jetzt ins Deutsche auch als "du" überträgt, verändert man die Beziehung und schafft eine scheinbare Vertrautheit, die das deutsche, nicht aber das norwegische Du ausdrückt.

In gewissem Sinne sind das norwegische "du" und das deutsche "Du" also geradezu falsche Freunde.

13.05.12 00:18
Ja, ich denke dass das genau die Überlegung der Übersetzer ist.

Mein Gefühl ist aber (als Deutscher, der oft in NO war und zB Krimis auf Norwegisch liest), dass dahinter eine Mentalität steht. Wenn man die Dialoge - zB zwischen Kunde und Verkäufer - mit dem deutschen 'Sie' überträgt, geht etwas typisch Norwegisches verloren.

Ist der Eindruck denn falsch? Ein Norweger, der in Deutschland lebt (oder umgekehrt) kann das doch sicher beurteilen.

Danke für weitere Antworten (offenbar will ich mich nicht so schnell von meinem (Vor)Urteil trennen.

Werner

13.05.12 01:34
Ich bin selbst Übersetzer (allerdings nicht aus dem Norwegischen), kenne also das Dilemma. Mentalität lässt sich nur sehr schwer übersetzen, und die Frage ist immer, ob man mehr gewinnt, wenn man die Dus drinlässt (mit der Gefahr, dass der Leser darüber stolpert und sein Lesefluss gestört wird), oder ob man sie rausnimmt (mit der Gefahr, dass etwas für das Land Typisches verloren geht). Es gibt wohl keine Patentlösung. Ich tendiere zum Siezen (wobei man die Du-Schwelle schon anders ansetzen kann als in Deutschland üblich), gerade wenn wir von Krimis reden. Dabei handelt es sich ja in der Regel um nicht nobelpreisverdächtige Literatur, die meistens zur reinen Unterhaltung konsumiert wird, und da setze ich den Lesefluss als Gut über den Lokalkolorit. Man muss auch bedenken, dass die allermeisten, die so eine Übersetzung lesen, gar nicht wissen, dass man sich in Norwegen duzt, so dass es vermutlich nur einer geringer Prozentzahl überhaupt auffällt.

(Habe unlängst übrigens einen norwegischen Krimi gelesen, in dem überraschend viele "De"s vorkamen, und das war kein alter Schinken. Das Siezen ist auch in Norwegen noch nicht komplett ausgestorben.)

13.05.12 08:51
Wie löst du das Problem mit der Verwendung von Vor - und Nachnamen ? Ich glaube, in der deutschen Fassung der Elling - Filme wurden die Vornamen gekoppelt mit Sie verwendet, was im Deutschen nach gymnasilaler Oberstufe oder Zeit - Redaktion riecht ( Gräfin Dönhoff soll die jungen Mitarbeiter so angeredet haben ).

Darf man fragen, um welchen Krimi es sich handelte ?

Lemmi

13.05.12 11:55, Geissler de
Was Lemmi beschreibt, ist auch als "hanseatisches Du" bekannt.
Das nur als Nebenbemerkung.

Ich arbeite selbst auch als Übersetzer, und meine wichtigste Richtschnur beim Übersetzen
ist die Wirkungsäquivalenz. Das heißt, die Übersetzung soll (im Idealfall) auf den Leser
so wirken, wie die Lektüre des Ausgangstextes bei einem Leser, dessen Muttersprache die
des Originals ist, wirkt.
Wo der Originaltext markiert ist, der Leser also stutzt, muß auch die Übersetzung markiert
sein. Umgekehrt gilt dasselbe: Wo der Leser des Originals nicht stolpert, soll man auch
dem Rezipienten der Übersetzung keine Stolpersteine in den Weg legen. Wenn nun der
Busfahrer Wildfremde einfach duzt, wirkt das aber auf den Leser befremdlich und ist also
zu vermeiden.
Zum Thema "Mentalität" könnte man nun auch eine ganze Abhandlung schreiben (gibt es sie
überhaupt? Und ist im Roman nicht die Persönlichkeit und Individualität der verschiedenen
Charaktere wichtiger als eine eventuell geteilte Mentalität?), aber mich interessiert v.
a. die Frage, ob ausgerechnet die Wahl des Personalpronomens das beste Vehikel ist, eine
wie auch immer geartete Mentalität in eine Fremdsprache zu transportieren.

Übrigens: Auch das Englische unterscheidet nicht zwischen formellem und informellem
Personalpronomen. Was sagt das über die
englische/amerikanische/südafrikanische/australische etc. Mentalität aus?

13.05.12 13:10
Das hanseatische Du empfinde ich als Nicht-Hanseat bisweilen auch als seltsam. In Übersetzungen aus dem Englischen (oder Norwegischen) nehme ich es hin, weil das Problem mit dem Duzen/Siezen, Vor- und Nachnamen wirklich nicht trivial ist. Aber in urdeutschen Romanen oder Filmen fällt es mir immer auf. Einer der Gründe, warum ich kein Sebastian-Fitzek-Fan bin. Selbst wenn ich mich mit komplettem Namen vorstelle, passiert es mir eigentlich nie, dass ich anschließend mit der Kombination Sie und Vorname angeredet werde. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass das schon mal vorgekommen ist (außer von Amerikanern).

13.05.12 14:23
Aus finnischen Serien kenne ich bisweile auch ein Duzen samt Anrede mit dem Nachnamen. Was sagt mir das über die finnische Mentalität?

Ansonsten sehe ich das wie Geissler - in der deutschen Übersetzung sollten die Figuren auch deutsch sprechen, und das Duzen wildfremder Personen ist hierzulande nunmal in den meisten Zusammenhängen nicht gängig.

13.05.12 20:38, Wer_ner
Danke für die zahlreichen Gedanken und Hinweise.

Ich meinte ua auch Folgendes:

Der Leser/Zuschauer weiß natürlich und sieht, dass die Geschichte in einem skandinavischen Land angesiedelt ist; er kennt (evtl. per Vorurteil) die Mentalität, die (flachen) sozialen Hierachien usw.
Daher stolpert er (oder ich) eben genau über das 'Sie' - an vielen Stellen zumindest und nicht umgekehrt (wie Geisler schreibt).
Außerdem, wenn das norwegische 'De' vorkommt - was ja regelmäßig passiert - , so hat man doch mit dem Übersetzen ein Problem, oder ?

Also: richtig überzeugt habt ihr mich nicht, wenn auch nachdenklich gemacht.

Werner

13.05.12 21:53, Wer_ner
(pardon: Geissler)

Mal ein Beispiel aus J.GUNNERUD, DJEVELEN ER EN LØGNER:

"Få snakke med din nærmeste overordnede øzeblikkelig, eller så kommer jeg i egen person ... og vrenger skjørtet over hodet på deg" !

sagt eine resolute Schreibkraft eines Lensmanns aus Korsfjord am Telefon zu einer ihr fremden Mitarbeiterin der Uni Tromsø, die sich nicht regelgerecht verhalten hat.

Im Deutschen müsste man dann nach eurer Mehrheitsmeinung die Anrede "Sie" wählen !??

Das Beispiel zeigt das, was ich meine, ganz gut.

Werner

13.05.12 22:11, Geissler de
Ich sehe da ehrlich gesagt kein Problem. Gerade an dieser Stelle ist der Ausdruck ja
keiner, der flache Hierarchien reflektiert, sondern eine saftige Drohung. So etwas kommt
auch im Deutschen jeden Tag vor, und zwar per Sie.
Es ist ein Mißverständnis, daß Siezen automatisch Höflichkeit ausdrückt. Umgekehrt kann
natürlich das betonte Nicht-Siezen eine Unhöflichkeit ausdrücken, aber "Arschloch" wird
durch ein vorangestelltes "Sie" keinen Deut höflicher.

Wie könnte die Passage auf Deutsch lauten? Z. B. so:

Ich will jetzt sofort Ihren Chef sprechen, sonst komme ich höchstpersönlich vorbei und ...
[hier muß dann ein passender Ausdruck einer nicht wörtlich zu nehmenden Drohung kommen, z.
B.:]
... zieh Ihnen die Hosen aus!
... zeig Ihnen, wo der Hammer hängt!
... reiß Ihnen den Arsch auf!
...

Stutzt hier ein deutscher Leser wegen des "Sie"? Kaum. Aber wenn die Dame plötzlich
anfänge zu duzen, sähe die Sache anders aus.

13.05.12 22:22
Ich glaube, es ist wichtig, zu beachten, dass man beim Übersetzen nicht vom norwegenverrückten Leser ausgehen kann, der eigentlich nur aus Bequemlichkeit auf Deutsch liesst und sich mit Skandinavien bestens auskennt (oder das glaubt ...) . Auf mich wirkt es tatsächlich merkwürdig, wenn sich in Norwegen (bzw. in Büchern/Filmen in Norwegen) Leute siezen, auch wenn es sich um eine Übersetzung handelt, aber ich duze hier auch jeden Tag die Leute (auf Norwegisch) und übertrage das wohl einfach ins Deutsche. Aber die meisten Deutschen, die einen skandinavischen Krimi auf Deutsch lesen, stolpern wohl eher über duzen.

14.05.12 01:31
Es spricht ja nichts dagegen, Kollegen sich duzen zu lassen (z. B.), oder Leute, die sich einigermaßen bekannt sind. Das ist ja auch in Deutschland möglich, nur nicht ganz so verbreitet. Aber wenn der Kommissar einen Zeugen oder gar einen Verdächtigen duzt, wirkt das einfach nur seltsam auf mich. Die von Geissler angesprochene Wirkungsäquivalenz ist wirklich ein sehr wichtiger Punkt. Der Norweger denkt sich nichts dabei, wenn sich wildfremde Leute duzen, aber der (durchschnittliche) Deutsche denkt sich womöglich "hä?". Bei Übersetzungen aus dem Englischen wird ja auch nicht zwangsweise jeder geduzt (wobei das englische you eigentlich eh das Sie ist, aber wo es nur ein Pronomen gibt, spielt das natürlich keine Rolle mehr). Da habe ich auch noch nie Beschwerden drüber gehört. Ich habe aber auch schon Übersetzungen aus dem Schwedischen gesehen (Mankells waren es, glaube ich), in denen der Übersetzer die Anmerkung für die des Schwedischen Kundigen vorausschickte, dass zugunsten der deutschen Gewohnheiten auf das Duzen verzichtet wurde, wo es im Deutschen nicht üblich sei. Ich fand das selbsterklärend, aber geschadet wird's kaum haben.

Ich kann nachvollziehen, dass das für dich persönlich ein störendes Element ist - jeder hat ja solche Dinge, die viele vielleicht gut, richtig oder normal finden, die einem selbst aber gegen den Strich gehen. Aber ich halte die gängige Praxis für vernünftig und der Mehrheit angemessen. Aber irgendwas is ja immer. ;)

14.05.12 01:32, Wer_ner
Ja, Geissler argumentiert schlüssig und auch der letzte Satz von (22:22) ist wahrscheinlich richtig.

"Na bitte, damit ist doch klar, dass sinnvollerweise das deutsche Sie in den entsprechenden Fällen für das NO-du benutzt werden sollte."

Trotzdem noch ein Versuch, zu widersprechen:

Es ist kein hinreichendes Kriterium, dass die Leser mehrheitlich "über das Du stolpern" würden.
In NO hat sich eine Entwicklung vom "De" zum "du" vollzogen aus sozialen, politischen, 'soziokulturellen' und weiteren Gründen, die Bewusstseinsveränderungen als Ursache und auch als Folge hatte. Das heißt, die Verwendung von 'du' beschreibt einen Sachverhalt sozialer Art.
In D verläuft nun ebenfalls ein entsprechender Prozess, der aus naheliegenden Gründen bisher viel träger vonstatten geht. Aber gerade deshalb sind wir Deutschen in der Lage, den oben genannten 'Sachverhalt' beim Hören/Lesen des 'du' zu verstehen.

Kurz und gut: Ich glaube, man unterschlägt eine soziale Information über die agierenden Personen in skandinavischen Texten (ganz zu schweigen davon, dass man 'De' nicht mehr gegenüber 'du' abgrenzen kann), wenn man das 'du' im Sinne des 'der normale deutsche Leser/Zuschauer soll nicht darüber stolpern' mit 'Sie' überträgt.
Wenn er stolpert, soll er stolpern, denn er wird daraus etwas erfahren und sehr schnell nicht mehr stolpern.

(Meine Frau, die nur dreimal in Skandinavien war und die nordischen Sprachen nicht versteht, wundert sich zB, warum in Wallander- oder Norwegenkrimis dauernd gesiezt wird ('das passt doch nicht zu den Leuten') !!
und 22:22 sollte noch mal darüber nachdenken, warum das 'Sie' auf ihn merkwürdig wirkt!)

Übrigens: Im Englischen steht 'you' sowohl für 'du' als auch für 'Ihr' im Sinne von 'Sie' und aus dem sozialen Kontext heraus hört der Engländer das Passende (häufig das 'Sie').

Noch mal Danke für die aufschlussreichen Beiträge zu meiner Ausgangsfrage.

Werner

14.05.12 12:04
Gerade bei oberflächlicher Betrachtung legen sich die Leute gerne ein Bild von "typisch norwegischen" (deutschen, amerikanischen, etc.) Dingen zurecht und vergessen dabei, dass, wie so oft, die Variation innerhalb eines Landes beträchtlich größer sein kann als die Variation von "typisch Deutschem" zu "typisch Norwegischem". Auch in Norwegen kann man an unfreundliche, auf blödsinnigen Formalia beharrende Leute hinter dem Schalter geraten.

Nur, weil sich manch Norwegenbegeisterter gerne ein Land voller lustiger Trolle, flacher Hierarchien, schöner Fjorde, freundlicher, hilfsbereiter Menschen, etc... ausmalt, heißt das nicht, dass der einzelne Norweger in jedes Du eine freundliche, persönliche Note legt. Insofern wird da gar keine "soziale Information über die agierenden Personen" übermittelt. Der Beamte, der am Telefon mit einer wildfremden Frau am anderen Ende von Norwegen spricht, hat eben gar keine andere Wahl, als zu duzen.

14.05.12 12:50, Wer_ner
Bei dir konnte ich mich offenbar nicht verständlich machen; das geht aber auf meine Kappe.

Werner